Wer auffährt, hat nicht immer Schuld. Auch bei einem Auffahrunfall ist nicht von vornherein der Auffahrende immer Schuld, wie viele Autofahrer zu Unrecht vermuten. Darauf weisen die Verkehrsrechtsanwälte im Deutschen Anwaltverein (DAV) hin und beziehen sich auf ein Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt. Ein Autofahrer war auf ein vor ihm fahrendes Fahrzeug aufgefahren. Der Fahrer dieses Fahrzeugs war an einer Ampel bei Grün angefahren, hatte dann aber gebremst, weil er nach eigenen Angaben eine sich nähernde Straßenbahn gesehen hatte. Die Straßenbahn hielt allerdings an einer an der Kreuzung befindlichen Haltestelle.
Das Gericht sah in diesem Verhalten eine Behinderung des Verkehrsflusses, da er ohne für den nachfolgenden Verkehr erkennbare Ursache plötzlich abgebremst habe und dadurch das Auffahren des durch ein derartig verkehrswidriges Fahrmanöver überraschten Hintermannes unvermeidlich wurde.
In einer solchen Konstellation sahen die Richter die bei Auffahrunfällen häufig gerechtfertigte Vermutung für ein Verschulden des Auffahrenden für nicht gegeben.
Über 200.000 Auffahrunfälle ereignen sich alljährlich auf deutschen Straßen. Mit der rechtlichen Bewertung ist man gewöhnlich schnell zur Stelle. „Wenn‘s hinten knallt, gibt‘s vorne Geld“ oder „wer auffährt, hat immer Schuld“ – mit derartigen pauschalen Bewertungen wird ein Unfalltyp beschrieben, der wie kein zweiter unterschätzt wird.
Diese Grundregeln müssen Sie beachten:
- Wichtig für eine Kollision im fließenden Verkehr: Der Abstand von einem vorausfahrenden Fahrzeug muss in der Regel so groß sein, dass auch dann hinter ihm gehalten werden kann, wenn plötzlich gebremst wird.
- „Plötzliches“ Bremsen bedeutet: für den Hintermann überraschend, d.h. ohne vorhersehbaren Grund.
- Der Vorausfahrende darf nicht ohne zwingenden Grund stark bremsen.
- Mit einem Abbremsen ohne für ihn erkennbaren Grund muss der Hintermann rechnen und seinen Sicherheitsabstand entsprechend einrichten.
- „Stark“ bremsen heißt: mehr als „normales“ Abbremsen, nicht unbedingt Vollbremsung. Der Nachweis ist schwierig, häufig kann nur ein Gutachten helfen.
- Erlaubt ist ein starkes Bremsen bei einem „zwingenden Grund“. Das ist mehr als ein „triftiger Grund“; es muss eine akute Gefahr für Leib oder Leben des Fahrers oder eines Dritten bestehen. Die Gefährdung eines Tiers oder einer wertvollen Sache kann genügen. Kein „zwingender Grund“: Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 70 auf 50 km/h; Queren eines Kleintieres (Dackelentscheidung).
- Der Vorausfahrende darf auch ohne zwingenden Grund scharf abbremsen, wenn ein ausreichend großer Sicherheitsabstand zum Nachfolger besteht.
- Wichtig vor allem bei einer Kollision mit einem stehenden Hindernis (z.B. liegen gebliebener Pkw): Der Kraftfahrer ist verpflichtet, seine Fahrweise jederzeit, auch bei Dunkelheit, so einzurichten, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann, wenn ein Hindernis auf der Fahrbahn auftaucht (§ 3 Abs. 1 StVO).
Auffahren auf ein stehendes Fahrzeug: Hier ist wiederum zu unterscheiden zwischen einem freiwilligen Anhalten und einem unfreiwilligen Stopp, z.B. Liegenbleiben wegen Defekts, Kraftstoffmangel etc.. Bei der ersten Fallgestaltung ist in der Regel von einer Alleinhaftung des Auffahrenden auszugehen (aber Mithaftung bei Anhalten in einer Kurve, ohne ausreichende Beleuchtung etc.). Bei der zweiten Fallgestaltung ist die Betriebsgefahr durch den Ausfall des Fahrzeugs erhöht, zudem kann sie durch ein Sicherungsverschulden gesteigert sein, also nur Teilhaftung des Auffahrenden.
Auffahren auf ein abbremsendes Fahrzeug: War das Abbremsen verkehrsbedingt und angemessen, so haftet der Auffahrende im Allgemeinen zu 100 Prozent. Bei einem grundlosen Bremsen des Vordermanns tritt die Betriebsgefahr seines Kfz nicht voll zurück. Die Mithaftungsquote kann bis zu 50 Prozent betragen.
Auffahren auf ein (ungebremst) vorausfahrendes Fahrzeug: Grundsätzlich ist von der Alleinhaftung des Auffahrenden auszugehen. Mithaftung des Vordermanns bei extrem langsamer Fahrt oder bei unzureichender Beleuchtung.